Jannik Kroll
von Jannik Kroll
 
15.06.2022
 
9 Min.
Additive Fertigung: Wie viel Fortschritt können Unternehmen drucken?

Herr Süß, Ihre Firmierung enthält die Bezeichnung “Additive Manufacturing”. Andere nennen es schlicht “3D-Druck”. Wie erklären Sie den Unterschied?

Die Begriffe “Additive Fertigung” und “3D-Druck” werden synonym verwendet. Das ist grundsätzlich korrekt. Zumal bei der selbsterklärenden Bezeichnung 3D-Druck alle sofort wissen, was gemeint ist. Wichtig ist: Bei wirtschaftlicher Anwendung oder in der Forschung sprechen wir lieber von additiver Fertigung. Das betont das komplexe Verfahren, zu dem auch die Produktentwicklung gehört. Ich nenne es manchmal “industriellen 3D-Druck”, um Know-how und Technologie von den Heimgeräten abzugrenzen.

Für welche Aufgaben eignet sich die additive Fertigung?

Übergeordnet handelt es sich um ein Verfahren, mit dem Unternehmen ihre Bauteile in kleinen Stückzahlen kostengünstig herstellen. In wenigen Stunden fertigt ein Drucker geometrisch komplexe Teile, deren konventionelle Produktion einige Wochen dauern würde. Diesen Zeitvorteil bietet keine andere Technik.

Kleine 3D-Druck-Consumergeräte sind den meisten bekannt. In welchen Größenordnungen arbeitet die professionelle additive Fertigung?

Die kleinsten gedruckten Bauteile sind kaum stecknadelkopfgroß. Andererseits können ganze Häuser gedruckt werden. In Amsterdam wurde eine Brücke aus Metall per 3D-Druck hergestellt. Doch das sind Extreme. Weder die kleinsten noch die größten Bauteile gehören zum Tagesgeschäft. Mehr als 80 % der gedruckten Teile passen in einen Schuhkarton. Wir unterscheiden sehr genau, was technisch möglich und sinnvoll ist.

3D-Druck wird häufig mit Prototypenbau verbunden. Ist die Technik für die Serienproduktion reif?

Der Prototypenbau gehört noch immer zu den wichtigen Aufgaben. Nur so lassen sich wichtige Zwischenversionen in der Produktentwicklung schnell und günstig herstellen. Die Druckverfahren und -materialien wurden in den vergangenen Jahren enorm weiterentwickelt. Immer mehr Bauteile eignen sich inzwischen für den 3D-Druck in Serie.

Was spricht dafür?

Meist entscheiden die geringeren Kosten. Doch auch die technischen Möglichkeiten und der Zeitfaktor zählen. Werkzeuge für die konventionelle Fertigung erfordern große Investitionen, bevor das erste Teil produziert werden kann. Die additive Fertigung benötigt keinen technischen und zeitlichen Vorlauf.

Dazu realisieren wir mit diesem Druckverfahren komplexe Baugruppen in einem Stück. Mit Dreh- und Frästeilen bestünden sie aus zehn oder mehr Einzelteilen.

Ein weiterer Vorteil ist, dass ein Bauteil erst bei Bedarf gedruckt wird. Es kommt sozusagen per Knopfdruck aus dem “digitalen Lager”. Damit entfallen Kosten für die vorhaltende Produktion und physische Lagerung.

Wie lange dauert der Prozess einer additiven Fertigung von der Planung bis zum fertigen Produkt?

Das ist sehr unterschiedlich, wir müssen Entwicklung und Produktion deutlich trennen. Der reine Druck dauert meist wenige Stunden oder wird über Nacht aktiviert.

Der Entwicklungsprozess hängt von dem Bauteil ab. Wir haben kürzlich eine Sensorhalterung entwickelt. Ein einfaches Teil mit zwei Schraubenlöchern. Für das Design und die Konstruktion brauchten wir eine Stunde. Komplexere Komponenten benötigen teils monatelange Entwicklung. Dabei geht es um minimale Details, damit sie zu einem gut performenden, kostenoptimierten Bauteil werden.

Dieser Prozess ähnelt der konventionellen Fertigung. Doch wir können jederzeit und günstig einen Prototyp ausdrucken. Das reduziert die Entwicklungszeit deutlich.

In der aktuellen Krisenlage sind Lieferketten dramatisch gestört. Welche neuen Chancen schreiben Sie der additiven Fertigung zu?

Nicht nur die Ukraine-Krise unterbricht Lieferketten. Schon die Pandemie hat Engpässe verursacht. Es wird immer wichtiger, quasi per Knopfdruck ein Bau- oder Ersatzteil ohne die Abhängigkeit von Lieferwegen und -zeiten zu beschaffen. Die Industrie wird die Chance nutzen und zeigen, was sie kann. Einen großen Schub hat die Branche der additiven Fertigung bereits bekommen. Zu Beginn der Pandemie wurden in Deutschland mit der 3D-Druck-Technologie beispielsweise Atemgeräte und Face Shields für medizinisches Personal gedruckt.

Warum lohnt es sich auch bei rein temporären Engpässen, vorhandene Bauteile für einen 3D-Druck neu zu konstruieren?

Entscheiderinnen und Entscheider schauen bei einer unterbrochenen Lieferkette auf Zeit und Kosten. Hier geht es nur um Lösungen, denn jedes Teil gehört zu einem großen Ganzen. Stehen die Bänder still oder laufen sie, das ist die Frage. Vorteil bei den Neukonstruktionen via 3D-Druck: Wir optimieren das Bauteil in den Funktionen, der Performance, der Effizienz.

Das Risiko für Engpässe lässt sich senken, bevor die Lieferketten stehen. Bereits im Entwicklungsprozess von Bauteilen für die konventionelle Herstellung sollten Unternehmen parallel eine 3D-Druck-Variante als Backup anlegen. Das empfehle ich dringend für eine höhere Lieferkettensicherheit.

Wie schätzen Sie die Differenz der Produktionskosten von konventioneller und additiver Fertigung ein?

Das hängt von dem Bauteil ab – und von der benötigten Stückzahl. Bei einem hohen Bedarf rentiert sich meist die konventionelle Herstellung. Bei komplexen, multifunktionalen Spezialteilen in geringer Menge rechnet sich die additive Fertigung besser. Die Produktion eines Teils mag teurer sein, dafür ist der Gesamtprozess deutlich günstiger.

Wie verdeutlichen Sie das einem Unternehmen anhand eines konkreten Beispiels?

In einem Diagramm skizziere ich die Kosten pro Bauteil bei steigender Stückzahl. Die Graphen von additiver und konventioneller Fertigung lege ich übereinander.

Beispielsweise entstehen für ein Spritzgussteil hohe Werkzeugkosten als Anfangsinvestition. Damit ist die erste produzierte Einheit extrem teuer. Mit jedem weiteren Stück sinkt die Kurve. Bei der additiven Fertigung sind die Kosten pro Stück linear. Links von dem Schnittpunkt der beiden Graphen ist 3D-Druck günstiger, rechts davon konventionelle Verfahren.

Philipp Suss

3D-Drucker sollen die Toleranzwerte und Oberflächengüte der konventionellen Fertigung noch nicht erreichen. Welche Nacharbeiten macht das erforderlich?

Nacharbeiten fallen kaum an, denn dieser Aufwand wird bereits im Entwicklungsprozess berücksichtigt. Die Ingenieur*innen entscheiden sich nur für additive Fertigung, wenn die Oberflächenbeschaffenheit und die Toleranzen ausreichen. Bei den Toleranzen liegen wir heute allerdings schon im Zehntelmillimeterbereich.

Dennoch kommt es vor, dass beispielsweise eine Kontur für ein Kugellager oder ein Ventil in einem komplexen Bauteil aus additiver Fertigung nachgefräst wird. Diese Kombination beider Herstellungsverfahren ist effizienter, als die komplette Baugruppe auszufräsen.   

Bei was für Produkten werden Nacharbeiten bewusst eingeplant?

Es gibt einen Brillenhersteller, der jedes Modell additiv fertigt. Er bearbeitet die gedruckten Oberflächen der Gestelle mechanisch nach und färbt sie ein. Dieses standardisierte Verfahren ist hocheffizient.

Kunststoffe, Metalle, Schokolade und sogar Körperzellen dienen mittlerweile als Rohstoffe. Welche Materialien können Sie noch einsetzen?

Als ich vor zwölf Jahren mit der additiven Fertigung begann, gab es nur fünf oder sechs Werkstoffe. Heute kann prinzipiell jedes Material gedruckt werden, selbst wenn es noch nicht wirtschaftlich wäre. Forschende testen aktuell Glas als neuen Werkstoff. Wir können es in vielleicht fünf Jahren drucken.

Wann ist ein Stoff druckfähig?

Wenn wir ein Material kurz aufschmelzen, über eine Düse positionieren und bei Zimmertemperatur verfestigen können, drucken wir damit. Dazu gehören viele Kunststoffe und Metalle. Nicht schmelzfähige Stoffe pulverisieren wir und mischen sie mit Bindemittel. Die gedruckte Masse härtet im Ofen aus.

Es gibt noch weitere 3D-Druck-Verfahren, die auf verschiedenen physikalischen Grundprinzipien beruhen.

Wenn Sie von Aufschmelzen sprechen, welche Temperaturen muss ein 3D-Drucker erzeugen können?

Stahl hat einen Schmelzpunkt von deutlich über 1.000° Celsius, für Schokolade reicht die Sonneneinstrahlung. Die Temperatur zählt zu den wichtigsten Prozessparametern in der additiven Fertigung. Die Grenzen kennen wir noch nicht. Sie werden sich mit neuen Materialien weiterentwickeln.

Temperaturen von 1.000 ° Celsius – das klingt nach einem hohen Energiebedarf. Dabei ist ökologische Nachhaltigkeit in allen Wirtschaftsbereichen ein Topthema. Welche Vorteile kann die additive Fertigung bei dem Thema vorweisen?

Drei Punkte sind maßgeblich.

Erstens: In der additiven Fertigung benötigen wir nur das Material des Endprodukts. Das Bauteil wächst wie ein Baum. Konventionell hergestellte Komponenten werden teils aus einem großen Block gefräst, wobei 90% des Materials zurückbleibt. Das lässt sich einschmelzen, doch das verbraucht erneut viel Energie.

Zweitens: Mit dem industriellen 3D-Druck fertigen Firmen nach Bedarf. Es entfallen Ressourcen und Kosten für Lagerhaltung und Energie. Erfahrungsgemäß sind Lager entweder zu schnell leer oder die Teile braucht rasch niemand mehr. Es passt selten.

Drittens: Die additive Fertigung kann an dem Ort stattfinden, an dem die Teile gebraucht werden. Jede Banane reist theoretisch zweimal um die Welt. Diese überflüssigen Transportwege können Unternehmen zugunsten der Umwelt – und der Kosten – einsparen. Zumal eilige Ersatzteile häufig den wenig ökologischen Weg durch die Luft nehmen.

Beim Thema Nachhaltigkeit wird Beratung immer bedeutsamer. Gilt das auch für die additive Fertigung?

Beratung macht einen großen Teil meiner Arbeit aus. Ich empfehle Firmen, auf welchen Feldern sie die 3D-Druck-Technologie wie einsetzen können. Dabei geht es um Chancen und Risiken, um Investitionen in die Technik und um Strategien für die nächsten zehn Jahre.

Als Berater und Ingenieur habe ich Vorteile. In vielen Fällen kann ich anstelle einer Präsentation ein fertiges Bauteil als Lösung auf den Tisch legen. In dieser Rolle arbeite ich mit Entscheider*innen und gleichermaßen mit den Praktiker*innen in der Produktion zusammen. Sie kennen jedes Detail der Komponenten und wir reden auf Augenhöhe. Darum heißt meine Firma “Süß & friends”.

Herr Süß, Ihre Firma ist klein und hochspezialisiert. Welche Benefits haben Unternehmen in der Zusammenarbeit mit Ihnen und Ihrem Team?

Unser Metier ist technisch und strategisch für Unternehmen völlig neu. Wir vermitteln Know-how, das es am Markt noch nicht gibt. Und damit befähigen wir die Unternehmen, internes Wissen aufzubauen und von dieser Technologie zu profitieren.

Da wir mittlerweile häufig von Beginn an in Projekte eingebunden werden, spüren wir eine wachsende Akzeptanz. Der externe Blick von Expert*innen ist unseren Auftraggebenden wichtig. Wer neue Wege gehen will, muss neue Denkweisen ins Unternehmen holen.

Sie sagen, das Wissen gibt es am Markt noch nicht. Wie exklusiv sind Sie mit Ihrem Angebot?

Der Bedarf übersteigt das Wissen am Markt deutlich. Es gibt sicherlich noch andere Berater*innen. Doch mit unserem Konzept sind wir einzigartig. Wir beraten nicht nur, wir setzen auch um. Dazu habe ich hochspezialisierte Konstrukteure im Unternehmen, die geplante Druckobjekte direkt realisieren können.

Sie sprechen mit einem Produkthersteller. Er ist uneins, ob er konventionell oder additiv fertigen will. Welche drei Entscheidungshilfen geben Sie dem Produzenten?

1.    Betrachten Sie nicht ein Bauteil, sondern den gesamten Prozess. Dazu gehören auch Investitionen und Flexibilität.

2.    Geben Sie sich nicht damit zufrieden, ein Teil per 3D-Druck nachzubauen. Bauen Sie ein besseres und funktionaleres.

3.    Einfach mal machen. Halten sie ein Bauteil in der Hand, statt darüber zu sprechen. Ohne immense Kosten für Werkzeuge.

Ingenieur und Berater Philipp Süß ist Topexperte im Bereich additive Fertigung. Er begleitet Projekte und Unternehmen auf dem Weg zu unabhängigen, effizienten und nachhaltigen Fertigungsmethoden. Er lebt in Mülheim an der Ruhr.

Philipp Süß – Ingenieurbüro Süß & friends, Mülheim an der Ruhr
Philipp Süß
Ingenieurbüro Süß & friends, Mülheim an der Ruhr

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