Herr Dr. Partsch, Sie haben den Begriff Supply Chain Management geprägt und auf dem Gebiet über Jahrzehnte Pionierarbeit geleistet. Warum haben Sie sich damals für dieses Thema begeistert?
Ich komme aus der Naturwissenschaft, habe in Geophysik promoviert. Mich hat es fasziniert, dass wir ein tausende Kilometer entferntes Erdbeben aufzeichnen und analysieren können. Dass wir aus wenigen Daten weitreichende Zusammenhänge verstehen. Diese Analogie lässt sich auf jedes Unternehmen übertragen. Jede Firma ist ein Körper, der durch äußere Ereignisse beeinflusst wird. Die Aktionen, die im Einkauf passieren, haben ganz natürliche Auswirkungen auf den Verkauf. Aus dieser Erkenntnis speiste sich meine Vision für das Thema Lieferketten.
Wie würden Sie Ihre damalige Grundidee zusammenfassen?
Die alles entscheidende Frage war: Wie können Unternehmen ihre Informationen ohne große Friktionen durch ihre Organisation bringen? Ich wollte die Hürden und Mauern, die damals zwischen Einkauf, Produktion und Lagerung standen, durchdringen.
Zwischen den ersten Anwendungen Ihrer Arbeit zu Beginn der Achtzigerjahre und heute hat sich die Welt mehrmals »neu erfunden«. Wie hat sich Ihre Vision in all den Jahren verändert?
Die Basis ist dieselbe wie zu Beginn der Achtzigerjahre. Unternehmen müssen Informationen durch Ketten führen – und das möglichst schnell. Nur der Scope, der Umfang, hat sich verändert. Früher fand vom Einkauf über die Produktion bis zur Verteilung alles in einem Unternehmen statt. Von Tür zu Tür. Durch neue Technologien hat sich nicht nur die Informationsgeschwindigkeit erhöht, auch die Ketten sind komplizierter geworden. Das geschah in mehreren Etappen. In den Neunzigerjahren die Internationalisierung, im nächsten Jahrzehnt die Globalisierung. Durch das Internet sind wir in globalen Netzwerken gelandet.
Was bedeutet das für die Lieferketten?
Wir können sie mittlerweile von Ende zu Ende betrachten. Vom Rohprodukt bis zur finalen Ware. Oder wie ich im Lebensmittelbereich sage: From Farm to Fork. Vom Bauernhof zur Gabel.
Durch die Krisen der vergangenen Jahre hat der Begriff »Lieferkette« in den Medien an Relevanz gewonnen. Redet man über Lieferketten nur, wenn Sie bedroht sind?
In wirklichen Fachkreisen waren die aktuellen Themen immer präsent. In der Öffentlichkeit wurden die Probleme leider erst vor Kurzem bemerkt und anerkannt. Weil Produkte »plötzlich« nicht mehr verfügbar waren, weil es Lieferverzögerungen gab. Neulich habe ich in den USA eine Karikatur gesehen, die es vortrefflich zusammenfasst: Sogar die Kinder wissen jetzt, dass der Weihnachtsmann nicht kommt, wenn die Supply Chain auseinanderbricht.
"Selbst zu Beginn des Jahres 2023 kann ich mit Fug und Recht sagen, dass maximal 20 Prozent der produzierenden oder handelnden Firmen hierzulande eine exzellente oder annähernd perfekte Supply Chain besitzen."
Gehören deutsche Managerinnen und Manager zu den Fachkreisen, von denen sie berichten?
Allenfalls in Ausnahmen. Nicht nur die Öffentlichkeit war spät dran, auch die meisten Unternehmen. Selbst zu Beginn des Jahres 2023 kann ich mit Fug und Recht sagen, dass maximal 20 Prozent der produzierenden oder handelnden Firmen hierzulande eine exzellente oder annähernd perfekte Supply Chain besitzen. Dass sie das Thema verstanden und die richtigen strategischen Maßnahmen eingeleitet haben.
Und die anderen 80 Prozent?
Die sind leider noch immer nicht so weit. Einen entsprechenden Vorstand, einen Chief Supply Chain Officer, haben die wenigsten Unternehmen eingesetzt. Die Industrie nimmt das Thema bis heute nicht ernst genug. Um nicht zu sagen: Sie ignoriert es.
Woran liegt es, dass Unternehmen in einem historischen Industrieland, dem ehemaligen Exportweltmeister, dermaßen nachlässig agieren?
Am gefährlichen Unverständnis in den Köpfen der Verantwortlichen. Supply Chain Management wurde sehr lange missverstanden. Die einen haben es als Logistik übersetzt, als Lagerung und Verteilung. Andere benutzen es synonym für den Einkauf. Unternehmen müssen die Lieferkette aber ganzheitlich betrachten. Vom Ursprung eines Produktes bis zum Ende. Nur dann, wenn alle Glieder bekannt sind, kann man sie managen. Ich vergleiche das mit einer Eisenbahn. Auf der Zugstrecke von München nach Hamburg gibt es viele Zwischenstationen, an denen Waggons mit Paketen beladen werden. Mit Waren, mit Informationen, mit Geld. Wenn das Gleis an einer einzigen Stelle bricht, erreichen diese Werte nicht die Endstation.
Was bedeutet diese Anfälligkeit für Unternehmen?
Dass sie immer wissen müssen, wo sich gerade welche Informationen befinden. Jeder Wert muss trackbar, also verfolgbar sein. Damit man sie über alternative Routen transportieren kann, sobald die Schiene bricht.
"Ich habe Unternehmen schon in den Achtzigern vor dem Offshoring nach China gewarnt."
Heutzutage besteht die wichtigste Verbindung nicht mehr zwischen Hamburg und München. Es ist die Linie von Peking bis Berlin, die über das Wohl der deutschen Wirtschaft entscheidet.
Ich habe Unternehmen schon in den Achtzigern vor dem Offshoring nach China gewarnt. Ihnen erklärt, dass es bei einem Transport aus dem fernen Osten nach Deutschland bis zu 57 Bruchstellen gibt. An jeder Einzelnen kann Fundamentales schiefgehen. Diebstähle, Beschädigungen, natürlich auch Probleme beim Zoll. Ich habe damals sogar vorgerechnet, dass die Produktion hierzulande – oder in der Nähe – genauso günstig ist.