Herr Orgeldinger, Sie kennen die deutsche Wirtschaft. Wie gut wird sie durch die Krise kommen?
Gut beratene Unternehmen dürften gestärkt aus der Krise hervorgehen. Sie agieren vorausschauend, sind innovativ und entwickeln sich analog zu den neuen Bedingungen. Sie managen nicht nur die Krisen. Viele der dazugekommenen Herausforderungen wären in absehbarer Zeit sowieso relevant geworden. Anfällige Wertschöpfungsketten, stärkere Digitalisierung und die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen sind Probleme, die unsere Wirtschaft durch Corona und den Krieg in der Ukraine nur früher lösen muss.
Hat dieser Prozess mit Corona begonnen?
Ich erlebte die deutschen Unternehmen zu Beginn der Pandemie eher zurückhaltend. Covid-19 wurde zum Alltag. Der Ukraine-Krieg änderte die bis dahin defensiven Strategien. Dieser Wandel macht mich zuversichtlich für künftige Krisen. Insbesondere der Klimawandel verlangt nach schnellem und entschlossenem Handeln, um die prognostizierten Folgen zu reduzieren.
In Krisen reagieren Firmen häufig nur, wie nehmen sie eine proaktive Rolle ein?
Ein unvorhergesehenes Ereignis ist gar nicht der entscheidende Zeitpunkt für Veränderungen. Die meisten Unternehmen verkraften ein bis zwei Jahre wirtschaftlichen Schaden, besonders wenn es alle betrifft. Anfängliche Regressionen stabilisieren sich.
Nachhaltiger Schaden entsteht vor allem dann, wenn sich eine Entwicklung bereits seit Jahren oder Jahrzehnten ankündigt. In diesen Fällen beschleunigt oder verstärkt die Krise lediglich bestehende Trends. Eine Rückkehr zum Ausgangspunkt ist nicht mehr möglich. Wer diese Tendenzen mitsamt ihren Gefahren früh erkennt und ernst nimmt, stellt lange vor Krisen die richtigen Weichen.
Welche konkreten Maßnahmen könnten das sein?
Weitsichtige Unternehmen haben beispielsweise in neue Produkte und den Ausbau ihrer digitalen Marketing- und Vertriebsfähigkeiten investiert. Das kann über organischen Aufbau, Gründung neuer Einheiten und Firmen oder Zukauf geschehen. Noch wichtiger ist die klare Vision der Veränderung des Markts und der eigenen Rolle darin.
Macht vorrangig die Digitalisierung deutsche Unternehmen in der sogenannten Zeitenwende zukunftsfähig?
Im Mittelpunkt stehen für mich weiterhin die Elektrifizierung und Digitalisierung. Nur wer diese Innovationen ernst nimmt, stellt heutige Produkte, Geschäftsmodelle und Arbeitsweisen grundsätzlich infrage.
Darüber hinaus glaube ich an soziale Innovation. An Unternehmen, die neue Interaktion mit ihren Stakeholdern finden. Wer Kunden stärker auf Augenhöhe begegnet und diese am eigenen Erfolg partizipieren lässt, gewinnt starke Fürsprecher.
Wo kommen diese Innovationen her?
Echte, sprunghafte Innovationen kommen fast immer von den Rändern. Von einzelnen Teams und Communities, die mehr wollen, als den Status Quo aufrechterhalten. Die Wirtschaft sollte sich besonders in außenpolitisch bedrohlichen Zeiten öffnen und Menschen kennenlernen, die anders denken als wir.