Herr Luckmann, Sie beraten seit vielen Jahren erfolgreich im Wissensmanagement. Ein Thema, das jedes Unternehmen betrifft, aber etwas unter der Oberfläche schwimmt. Man könnte sagen: Noch nicht als relevant wahrgenommen wird. Warum ist das für Firmen ein Problem?
In den meisten Organisationen – übrigens auch im Non-Profit- und Government-Bereich – findet man Wissensmanagement generell wichtig und richtig. Allerdings können die Verantwortlichen die inhaltlichen Aspekte und ihre Auswirkungen kaum greifen. Daher blieb das Wissensmanagement in den jeweiligen Abteilungen oft ein Schönwetterthema. Erst durch die gestiegene Anzahl der Schadangriffe mit Ransomware mit (vorübergehenden) Datenverlusten wächst die Wertschätzung für ein gezieltes Wissensmanagement.
Wo stehen deutsche Unternehmen und Institutionen beim Thema Wissensmanagement?
Es gibt viel zu tun. Durch die bekannten Veränderungen und Disruptionen in der Wirtschaft müssen wir genau hinsehen und differenzieren: Welches Wissen brauchen wir noch? Welches nicht? Wo müssen wir Know-how abstrahieren, damit wir es neu konkretisieren können?
Die akuten Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft führen dazu, dass beim Thema Wissensmanagement alle auf den Start zurückfallen. Die, die sich in der Vergangenheit intensiver damit auseinandergesetzt haben, müssen nun „ausmisten“. Andere dagegen endlich loslegen.
“Die Vokabel „Prozess“ hat in der öffentlichen Verwaltung eine andere Bedeutung als in der Wirtschaftswelt.“
Wie unterscheidet sich die Situation zwischen privatwirtschaftlichen und öffentlichen Projekten?
Bestenfalls kulturell. Die juristisch geprägte Verschriftlichung im öffentlichen Sektor hilft bei der Dokumentation von Wissen. Allerdings wird hier zu oft alles dokumentiert, was nicht „niet- und nagelfest“ ist. Man berücksichtigt nicht, was einen Wert hat und was nutzlos ist. Und leider wird zu oft nicht verstanden, was man da eigentlich verschriftlicht, sobald es um Prozesse oder Technik geht. Die Vokabel „Prozess“ hat in der öffentlichen Verwaltung eine andere Bedeutung als in der Wirtschaftswelt. In der eher technologisch-wirtschaftlich geprägten Kultur gibt es zwar mehr Sachverstand. Aber die Lust, dieses Wissen auch zu dokumentieren, ist nicht sehr verbreitet. Wenn man IT studiert hat, sieht man seine Zukunft ja nicht unbedingt in der Textverarbeitung. Sonst hätte man gleich Germanistik wählen können. Und das ist auch verständlich.
Es gibt einen schönen Satz in Ihrer Branche: Wenn ein Konzern wüsste, was ein Konzern alles weiß. Beinahe philosophisch. Was ist gemeint?
Menschen, die in ihrer Organisation verantwortlich für das Funktionieren von etwas sind und Erfahrung haben, wissen, was sie tun. Mit ein wenig Glück können sie ihr häufig unbewusst gespeichertes Wissen bei Bedarf an einen Newbie weitergeben. Zumindest dann, wenn dieser aus dem gleichen Fach kommt und die Zusammenhänge grundsätzlich versteht. Wenn andere - womöglich – externe Kolleginnen und Kollegen ihre Fragen stellen, geht jedoch oft die Jalousie runter.
Weil die Betroffenen Ihr Wissen schützen möchten?
Nein, gar nicht aus Widerstand. Eher, weil sie selbst die konkrete Antwort nicht auf Knopfdruck parat haben. Wenn Menschen aus heiterem Himmel nach den Geheimnissen Ihrer Alltagsarbeit gefragt werden, fällt vielen nur ein Bruchteil als Auskunft ein. Manche bleiben anschließend verunsichert zurück und fragen sich, was sie eigentlich den ganzen Tag tun.
Was sind abseits von verschwendeten Potenzialen die katastrophalsten Fehler, die Organisationen beim Wissensmanagement machen?
Dass das Management die Wertschöpfung aus einem funktionierenden Wissensmanagement nicht kennt oder sie unterschätzt. Die Folgefehler liegen dann in der Umsetzung. Früher lag das Hauptaugenmerk auf der Dokumentation, also der Speicherung von Informationen für alle Fälle und auf Vorrat. Wichtiger ist aber die Anwendbarkeit von diesem Wissen und dessen Transfer an diejenigen, die es brauchen. Wir kennen alle das gern zitierte „historisch gewachsene“ Wissen. Wenn das Wort fällt, jagt es mir inzwischen eine Gänsehaut über den Rücken. Ich weiß ab diesem Moment: Okay, jetzt gibt es Arbeit.
Warum ist historisch gewachsenes Wissen schlecht?
Weil es an die individuellen Erfahrungen der Beteiligten geknüpft und mit dem „alten“ Kontext verbunden ist. Damit ist es für Außenstehende oder Neueinsteigende schwer vermittelbar. Und wenn Wissen nicht verstanden wird, ist es unbrauchbar.
Mit welchem praktischen Beispiel aus dem Alltag können Sie das verdeutlichen?
In einem sehr großen Projekt soll der Betrieb der Netzinfrastruktur ingesourced werden. Der bisherige Betreiber hat das Netz aufgebaut. Er kennt es wie seine Westentasche. Der neue Betreiber muss jedoch aufgebaut werden. Das heißt: Er muss das Netz fachlich und prozessual verstehen. Erst wenn er das kann, lässt sich der Betrieb sicher übernehmen. Die internen Mitarbeitenden müssen beispielsweise die Behebung von Störungen lernen. Die Trainerinnen und Trainer des bisherigen Betreibers nannten dieses unübersichtliche Feld den „wilden Zoo“, weil es so viele und unterschiedliche Störungen gibt. Das macht den Wissenstransfer extrem kompliziert.