Herr Lotter, starten wir mit einer gewissen Brisanz. Wie stehen Sie zum Konzept der Vier-Tage-Woche?
Ich finde, dass vier Tage völlig ausreichend sind. Es könnten auch drei reichen oder zwei. Überhaupt kein Problem. Es kann genauso sein, dass wir sieben Tage benötigen. Wir sollten uns eher damit beschäftigen, was wir in unserer Zeit hinkriegen. Davon ist abhängig, ob 32 Stunden nun besser oder schlechter sind als 40.
Sie wollen, dass Leistung gemessen wird – und nicht die Zeit.
Es geht nicht darum, dass wir uns 30 Stunden mit einem Problem beschäftigen. Sondern darum, dass man die Aufgabe, der man sich gemeinsam oder alleine stellt, schnellstmöglich in einem vorab definierten Rahmen löst.
Seit Januar gelten neue Regeln für die Arbeitszeiterfassung. Ihre Wichtigkeit wurde politisch aufpoliert. Das Mantra »Leistung anstelle von Zeit bewerten« scheint wenig beliebt.
Der Leistungsbegriff ist in Deutschland total überholt. Dieser ist an Zeiten und Schichten geknüpft, an die alte industrialisierte Arbeit. Die meisten Menschen sind aber mittlerweile im Bereich der Wissensarbeit tätig, die andere Anforderungen hat. Die Arbeit, die aus der Muskelbude kommt, aus dem Fitnessstudio der Industrialisierung, wird dagegen weniger gebraucht, weil Maschinen sie deutlich effizienter hinkriegen. Nun folgt mit Algorithmen und KI die nächste Phase der Automation. Leider sind wir als Gesellschaft nicht mal mit der vorherigen Umstellung klargekommen. Wir haben zu wenig gelernt.
Woran liegt das?
Die alten industriellen Volksparteien haben immer noch eine unglaubliche Macht über die europäischen Gesellschaften. Diese Gruppen wollen ihr Geschäftsmodell beibehalten. Dieses lebt davon, dass sie eine relativ unmündige Bevölkerung in Unmündigkeit halten. Diese soll weder selbstständig noch selbstbestimmt tätig sein. Es gibt nur Kinder, keine Erwachsenen mit dieser Politik.
Wer auf LinkedIn unterwegs ist, erkennt vielerorts das menschliche Streben nach Bequemlichkeit. Das ist grundsätzlich verständlich. Aber eben nicht förderlich dafür, dass ein Land gedeiht. Zum Beispiel Jahrhundertaufgaben wie die Digitalisierung oder die ökologische Transformation der Wirtschaft meistert.
Bequemlichkeit ist kein grundsätzliches Problem. Wir sind aber auf einer falschen Ebene gemütlich. Wer Komfort will, muss denken. Und das tun wir nicht ausreichend.
Mit Verlaub: Das ist provokant und etwas oberflächlich. Was meinen Sie genau?
Wir laufen mit, tun stets das, was man uns sagt. Wir arbeiten in Routinen, in Normen, wünschen uns, dass alles so bleibt wie bisher. Wir machen es uns im System gemütlich. Dabei übersehen wir, dass uns die verlängerte Werkbank in Asien immer seltener zur Verfügung steht. Länder, die vor einigen Jahren als Entwicklungs- oder Schwellenländer galten, sind uns technologisch nahe gekommen. Manche haben uns sogar überholt.
»Wir brauchen Initiative, sind aber denkfaul.«
Welche Reaktion erkennen Sie in Deutschland? Immerhin ist das eine düstere Einschätzung.
Wir sind resigniert, lehnen uns zurück, verfrühstücken das Erbe der vorangegangenen Generationen. »Wird schon klappen. Und wenn's doch schiefgeht, hilft der Staat.« Nur gibt es ein Problem: Der Staat ist nichts anderes als die Gesamtheit unseres kollektiven Engagements. Wir brauchen Initiative, sind aber denkfaul. Um nicht zu sagen: dumm. Wir wollen alles schnell, besonders Geld, es dabei jederzeit so einfach wie möglich haben. Diese gelebte Sorglosigkeit ist kaum nachhaltig. Wir zahlen den Zinseszins bereits täglich für dieses Verhalten. Mit gravierenden Umweltschäden, einer porösen Infrastruktur und den Abhängigkeiten zu Asien, zum Beispiel.
Eine Lösung, die Sie als Essayist häufiger eingebracht haben, ist die Förderung von Selbstständigkeit.
Ich finde, dass Selbstständigkeit eine Tugend ist. Und zwar eine, die in unserer Wissensgesellschaft dringend nottut.
Warum?
Selbstständigkeit ist ein Konzept, in dem man selbstbestimmt arbeiten kann. Es gibt Kooperationen und Absprachen, die sind wichtig, aber man bekommt nicht genau gesagt, was man wie zu tun hat. Man darf seine intellektuellen Wege und Hilfsmittel selbst wählen. Der Ökonom Peter Drucker, einer meiner Lieblingsdenker, definierte Wissensarbeiterinnen und Wissensarbeiter als Menschen, die mehr von ihrer Sache verstehen als ihr Chef. Das ist auch eine Definition von Selbstständigkeit. Sie ist keine Ideologie, kein vertragliches Konstrukt, sondern ein Konzept, mit dem man Arbeit und Gesellschaft neu denken sollte.